Erfolgreiches autonomes Fahren ist nicht nur davon abhängig, dass Laser auch unter nebeligen oder Schlechtwetter-Bedingungen Abstände sowie Hindernisse erkennen. Im Straßenverkehr kommt es auf Menschen und deren teils spontane Entscheidungen an – springe ich noch fix über die Straße, um die Tram zu erwischen? Probleme, die cogniBIT aus München lösen möchte, indem menschliches Verhalten in Algorithmen abgebildet wird.
Dr. Garzorz, der cogniBIT-Claim ist, den menschlichen Faktor abzubilden, um
autonomes Fahren sicherer zu machen. Dieser Faktor ist sehr umfangreich, weil er nicht nur
Fahrer, sondern auch Passagiere, Fußgänger, Radfahrer … einberechnet. Ein zu ambitioniertes
Ziel?
Der menschliche Faktor spielt beim autonomen Fahren tatsächlich in vielerlei Hinsicht eine Rolle. Unser Ziel ist es, die Menschen um das autonome Fahrzeug herum realistisch zu simulieren, also den alltäglichen Straßenverkehr. So kann in der virtuellen Realität getestet werden, ob ein autonomes Fahrzeug auch wirklich sicher in der Interaktion mit uns Menschen ist. Natürlich gehören dazu nicht nur Fahrer, sondern auch vulnerable Verkehrsteilnehmer.
Da wir bereits innerhalb von wenigen Monaten einen funktionsfähigen Prototyp für Fahrer auf der Autobahn fertigstellen konnten, sind wir sehr zuversichtlich, dass wir auch den nächsten Schritt, nämlich innerstädtischen Straßenverkehr, zeitnah simulieren können. Fußgänger und Radfahrer, die im Anschluss auf unserer Entwicklungs-Timeline stehen, sind da eine vermeintlich größere Herausforderung. Tatsächlich aber nur vermeintlich, da unser neurokognitiver Ansatz stark generalisierbar ist – schließlich finden sowohl beim Fahrer als auch beim Fußgänger vergleichbare Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse statt. Von daher ist unser Ziel, den menschlichen Faktor in die Simulation zu bringen, aus unserer Sicht keinesfalls zu ambitioniert, sondern lediglich eine Frage der Entwicklungspower
Wie überführt man Konzepte wie Unsicherheit oder spontane Entscheidungen in ein technisches
System?
Das ist eine gute Frage, die schon sehr nah an den Kern unserer Technologie kommt. Unser neurokognitiver Ansatz übersetzt Elemente, die in den Kognitions- und Neurowissenschaften inzwischen sehr gut erforscht sind, in Algorithmen. Ein entscheidender Bestandteil ist dabei die Tatsache, dass unser Nervensystem an sehr vielen Stellen stochastische Elemente aufweist und somit viele „verrauschte“ Vorgänge beeinflussen, wie wir Menschen die Welt wahrnehmen und wie wir denken. Basierend auf unserer eigenen Forschungsexpertise können wir diese Prozesse gut modellieren und in Software übersetzen. Und am Ende ist es dann die Aufgabe der Entwickler autonomer Fahrzeuge, mit den spontanen, aber realistischen Entscheidungen unserer simulierten Verkehrsteilnehmer und ihren teilweise schwer vorhersehbaren Handlungen sicher umzugehen.
Welche waren die ersten Schritte, um aus der Inspiration eine funktionierende Geschäftsidee zu
machen?
Während Alex und ich noch an der LMU München zu den Themen Bewegungswahrnehmung und Verhaltensmodellierung forschten, sammelte Lukas nach seinem Postdoc in den Neurowissenschaften als Entwickler im Bereich Autonomes Fahren viel Erfahrung in der Automobilbranche. Er sah dabei den Bedarf an Verkehrsteilnehmer-Modellen für die Entwicklung und Absicherung autonomer Fahrzeuge und vor allem den Vorteil eines modellbasierten Ansatzes. Dass unsere Technologie größtenteils auf Erkenntnissen der Kognitions- und Neurowissenschaften beruht, ist bei drei Neurowissenschaftlern im Gründerteam natürlich nicht verwunderlich. Und da Lukas und Alex als Diplom-Ingenieure zusätzlich das nötige technische Know-how besitzen, war für uns schnell klar, dass wir diese zukunftsträchtige und skalierbare Geschäftsidee in die Tat umsetzen würden.
Gegründet haben Sie Anfang März – also genau zum C19-Start. Welche Umstände haben sich
daraus ergeben?
Tatsächlich haben wir mit unserem Projekt, also der Entwicklung unserer Technologie, einen Tag vor dem Lockdown im März begonnen. Da wir aber ein Software-Start-up sind, konnten wir recht flexibel im Home Office arbeiten und uns trotzdem gut koordinieren. Zudem hat die Münchner Gründerszene zum Glück flexibel auf die Kontaktbeschränkungen reagiert, sodass sehr schnell Online-Events stattfanden und wir trotz Corona-Einschränkungen über Wettbewerbe wie den Münchener Businessplanwettbewerb und Weconomy Sichtbarkeit bekommen konnten. Natürlich wurden viele Messen und Konferenzen abgesagt und auch bei den deutschen Automobilherstellern bemerken wir ein zögerlicheres Verhalten, was zukunftsträchtige Mobilitätskonzepte wie das autonome Fahren angeht. Trotzdem sind wir zuversichtlich, dass wir bald mit unserem Pilotprojekt starten können und mit der Qualität unserer Technologie punkten können.
Ist der Markt nicht gerade sehr umkämpft, weil alle Hersteller zwanghaft versuchen, ihren
eigenen IT-Bereich auszubauen, um den digitalen Marktanschluss nicht zu verlieren?
Es ist ein gutes Zeichen, dass die großen Industrien in Deutschland die Digitalisierung nicht verpassen wollen und in den Ausbau der IT-Bereiche investieren. Zur Digitalisierung kommt in der Automobilbranche zusätzlich eine vermehrte Verlagerung der Entwicklung und Absicherung automatisierter und autonomer Fahrfunktionen in die Simulation hinzu. Das kommt uns natürlich zugute, da langfristig immer mehr Entwickler mit Simulationen arbeiten werden und unsere realistischen Simulationsmodelle menschlicher Verkehrsteilnehmer noch gefragter werden. Sicher wird es auch weiterhin Inhouse-Entwicklungen geben. Allerdings sehen wir, dass die Hersteller – gerade in der aktuell angespannten wirtschaftlichen Lage – zunehmend den Entwicklungsaufwand zukunftsträchtiger Technologien wie dem autonomen Fahren auslagern und Tools dazukaufen.
Welches Fachwissen braucht es, um eure Ziele zu verwirklichen und wie kommt man
beispielsweise als Informatiker oder Neurowissenschaftler mit Psychologie (fachlich) in Kontakt?
Das ist eine interessante Frage, da aus meiner Perspektive die Neurowissenschaften sehr stark mit der Psychologie verwandt sind – beide versuchen im Wesentlichen das menschliche Wahrnehmen, Denken und Handeln zu verstehen, allerdings mit unterschiedlichen Methoden und auf unterschiedlicher Ebene. Ich habe vor meiner Promotion in den Neurowissenschaften Psychologie und Philosophie studiert und dabei eine sehr große Schnittmenge der drei Disziplinen wahrgenommen. Meine beiden Mitgründer Lukas und Alex können aber vermutlich am besten beantworten, wie man aus einem mathematisch-technischen Bereich wie den Ingenieurwissenschaften oder der Informatik den Kontakt zu den Neurowissenschaften bekommt. Das liegt sicherlich an dem vielfältigen interdisziplinären Studienangebot der Münchner Unis, bei der beispielsweise im Rahmen der Graduate School of Systemic Neurosciences Studierende aus unterschiedlichsten Fachrichtungen – von der Mathematik, Physik, über Informatik und Psychologie bis hin zur Medizin und Sprachtherapie – in den Neurowissenschaften promovieren.
Wer mehr über cogniBIT erfahren möchte, folgt am besten diesem Link.