Eine „bahnbrechende Innovationswelle“ erreicht die Gesundheitsbranche – und mit 29 Jahren surft Gloria Seibert mit ihrem Unternehmen „Temedica“ ganz oben mit. Mit ihrem Co-Founder Clemens Kofler und ihren Mitarbeitern entwickelt sie Apps für den Gesundheitsmarkt – die zum Teil von den Kassen anerkannt und bezahlt werden. Gloria erzählt im Interview über die Gründung und was das Geschäftsmodell so einzigartig macht.
Mit 21 hatten Sie bereits den Studienabschluss in der Tasche und sind direkt bei McKinsey eingestiegen. Waren das die ersten Berührungspunkte mit der Digitalisierung?
Als Mitglied der Generation der „Digital Natives“ bin ich bereits mit der aufstrebenden Digitalisierung aufgewachsen. Durch meine Arbeit bei McKinsey habe ich eher eine neue Sichtweise gewonnen: Mir wurde klar, was Digitalisierung für alteingesessene Konzerne bedeutet – nämlich Gefahr und Potenzial zugleich. Die Kraft, die von solch bahnbrechenden Innovationswellen ausgeht, hat mich fasziniert und gleichzeitig motiviert, diesen dynamischen Wandel mit zu gestalten.
Programmieren lernten Sie selbst im Silicon Valley – aber wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, dorthin zu ziehen?
Das Silicon Valley ist ein magischer Ort, wenn es um digitale Innovationen geht. Die Atmosphäre, Geschwindigkeit und der Lifestyle, wie ich sie im Silicon Valley erlebt habe – das findet man sonst nirgendwo auf der Welt. In meinem Jahrgang an der Programmier-Akademie kam eine bunte Gruppe junger Menschen zusammen, die mit maximaler Leidenschaft und Motivation unterwegs waren. Von morgens bis abends ging es pausenlos nur darum, etwas zu programmieren, Dinge zu erschaffen, sich zu verbessern und sich gegenseitig voran zu bringen. Eine unheimlich tolle Erfahrung – nicht nur auf der technischen Ebene.
Kommen Sie aktuell selbst noch zum Programmieren?
Mittlerweile beschäftigen wir knapp 40 Mitarbeiter und wachsen weiterhin stark. Mit meinem Mitgründer Clemens, ein äußerst erfahrener Softwareentwickler, habe ich mich so aufgeteilt, dass er die technischen Seiten von Temedica abdeckt und ich mich um die wirtschaftlich-strategischen Themen kümmere.
Wie wichtig ist es, dass Sie selbst über Programmierkenntnisse verfügen?
Im Silicon Valley habe ich die Grundstrukturen der Softwareentwicklung gelernt. Ich habe unter anderem an eigenem Leib erfahren, wie frustrierend es sein kann, wenn sich die Anforderungen an ein Produkt nicht mit dem technisch Möglichen decken. Diese Erfahrungen helfen sehr beim Aufbau und der Kommunikation unserer Teams. Genau aus diesem Grund sollten meiner Meinung nach alle Menschen Grundkenntnisse im Programmieren lernen, am besten schon in der Schule. Um in der zunehmend digitalen Welt zu bestehen, müssen wir nicht nur verstehen, wie wir digitale Lösungen nutzen, sondern auch wie sie funktionieren und aufgebaut sind.
Was hat Sie zur Gründung von Temedica bewogen?
Nach meiner Zeit im Silicon Valley war mir klar, dass ich etwas bewegen will. Dazu kommt, dass ich in meiner Familie Schicksalsschläge durch schwere Krankheiten erleben musste. Ist man nicht direkt betroffen, sieht man häufig nicht, wie wichtig eine persönliche und individuelle Begleitung der Betroffenen ist. Die Kombination aus Digitalisierung und Patientenbegleitung war quasi mein persönlicher Startschuss für die Digital Health-Branche.
Gab es bei der Gründung Herausforderungen, auf die Sie sich so gar nicht vorbereitet gefühlt hatten?
Ein Unternehmen aufzubauen, heißt in erster Linie, jeden Tag aufs Neue zu improvisieren und Lösungen zu finden. Darauf kann man sich nicht mit Kursen vorbereiten. Das war ehrlicherweise auch eine meiner größten Herausforderungen. In der Universität wie auch danach im Job wurde mir immer wieder eingetrichtert, Pläne zu schmieden und diese umzusetzen. Ein Unternehmen von null aufzubauen heißt jedoch vor allem: hinfallen, aufstehen und weitermachen. Da braucht es in erster Linie Durchhaltevermögen.
Werden Sie als junge Frau in der Tech-Branche manchmal unterschätzt oder hat diese sich mittlerweile gewandelt?
Als wir vor drei Jahren die Temedica gegründet haben, kam es manchmal vor, dass potenzielle Investoren oder Geschäftspartner uns nicht unbedingt direkt ernst genommen haben. Das muss aber nicht zwangsläufig daran liegen, dass ich eine Frau bin. Vielleicht war es auch das Erscheinungsbild von zwei jungen Menschen, die alteingesessenen Persönlichkeiten in der Gesundheitsindustrie erzählen wollten, was man alles verbessern kann. Mittlerweile hat sich das zum Glück ein wenig gewandelt: Wir haben uns einen sehr guten Ruf in der Branche und bei unseren Nutzern erarbeitet, sodass solche Situationen eigentlich nicht mehr vorkommen.
Welchen Hindernislauf müssen Apps durchlaufen, bis Krankenkassen sie zertifizieren?
Hier sind sehr viele Schritte nötig. Zunächst einmal muss das Produkt überzeugen und Nutzer langfristig begeistern. Zusätzlich sind diverse formale Regeln einzuhalten, beispielsweise eine Zertifizierung als Medizinprodukt. Viele Start-ups beißen sich an den hohen regulatorischen Anforderungen die Zähne aus und verlieren dabei leider auch häufig die Passion für ihre initiale Idee. Wenn man alle regulatorischen Hürden bezwungen hat, muss man die Krankenkassen meist einzeln ins Boot holen und Partnerschaften eingehen, von den beide Seiten profitieren. Auch das ist meist ein sehr langer, unsicherer und oftmals steiniger Weg. Wir haben es erfreulicherweise für mehrere Produkte bereits geschafft und das Feedback unserer Nutzer treibt uns jeden Tag erneut an, diesen Weg auch weiter zu bestreiten.
Apps sind ein Markt, der boomt. Gleichzeitig gibt es viele schwarze Schafe und auch einfach schlecht entwickelte Apps. Wie schafft man es als unbekanntes Start-up, sich in diesem Markt zu positionieren?
Ganz einfach: Nutzerfokus, Passion und Qualität! Es ist ein ständiger Kampf, dass das eigene Produkt im Sinne der Nutzer besser und besser wird. Der Launch einer App ist dabei nur ein erster Meilenstein. Danach heißt es weiter mit den Nutzern im Kontakt bleiben, das Produkt anpassen, Feedbacks auswerten und so weiter. Viele „alte Hasen“ denken, dass eine App, sobald sie im Markt ist, quasi fertig ist. Das ist ein Irrglaube: Wir arbeiten ständig an unseren Produkten weiter, damit sie von Tag zu Tag besser werden.
Wo sehen die Temedica in 5 Jahren?
In 5 Jahren werden wir mit unseren Therapiebegleitern viele weitere Erkrankungen abdecken und damit den Therapieverlauf vieler tausend Menschen verbessern. Das Schöne an digitalen Produkten ist, dass sie ohne signifikante Mehrkosten beliebig verbreitet werden können. Das ermöglicht uns vergleichsweise kostengünstig die Expansion ins Ausland – unter anderem auch in Entwicklungsländer, für die Digital Health noch einmal eine ganz andere Bedeutung haben kann.
Müssen die Developer, die Sie suchen, eine entsprechende Ausbildung mitbringen oder ermöglichen Sie auch den Quereinstieg?
Wir suchen in erster Linie Entwickler mit einigen Jahren Erfahrung und Passion für nutzerzentrierte digitale Produkte. Bei Temedica leben wir eine sehr intensive Weiterentwicklungs- und Lernkultur. Nur wenn wir uns gegenseitig voranbringen, können wir als Unternehmen nachhaltig erfolgreich wachsen. Ein solches Mindset suchen wir bei unseren Bewerbern. Was der oder die Einzelne genau studiert oder offiziell gelernt hat, ist dabei absolut irrelevant.
Mehr zu Temedica auf der Unternehmens-Website.
Über Gloria Seibert
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Gloria Seibert gründete 2016 gemeinsam mit Clemens Kofler das E-Health-Unternehmen Temedica, das auf medizinisch-fundierte Gesundheits-Apps spezialisiert ist. Gloria bezeichnet es als ihre Mission, digitale Technologien in den Dienst der Gesundheit zu stellen. Dafür entwickelt sie mit ihrem Unternehmen Temedica innovative Therapiebegleiter und Präventionslösungen, wie beispielsweise die erstattungsfähige pelvina-App. Gloria verfügt über einen Bachelor of Science der EBS Universität für Wirtschaft und Recht. Nach ihrem Studium war sie über drei Jahre für die renommierte Unternehmensberatung McKinsey & Company tätig. 2015 besuchte die heute 29-Jährige im Silicon Valley eine Akademie für Software Engineering. Zudem lehrt sie seit 2016 an der FH Rosenheim als Gastdozentin im Bereich Health Management. Als Gründerin und Geschäftsführerin hält Gloria die Fäden für alle wirtschaftlichen, finanziellen und rechtlichen Belange von Temedica in der Hand.